Guido Westerwelle und der wenig diskrete Charme der Bourgeoisie.

Sind wir alle von spätrömischer Dekadenz bedroht?

Da gibt es schon eine Menge, was wir in jüngster Zeit an Dekadenz über uns haben ergehen lassen müssen: ein demokratischer Staat, der, um an die Daten von Steuerhinterziehern zu gelangen, sich über seine eigene Rechtsstaatlichkeit erhebt und sich auf einen gewagten Deal mit Kriminellen einlässt. Geistliche Amts- und Würdenträger, die ihre Schutzbefohlenen befummeln, statt mit ihnen Latein und Griechisch zu büffeln. Öffentlich-rechtliche Sendeanstalten, die uns in munterer Talkrunde den „frechsten Arbeitslosen Deutschlands“ zur Unterhaltung präsentieren, damit er einem werktätigen Publikum, das ihm die Transferleistungen erwirtschaftet, seine Arbeitsverweigerungsstrategien zum Besten geben kann. Und zu guter Letzt mussten wir dieser Tage auch noch eine menschelnde Landesbischöfin verkraften, die, betrunken am Steuer, eine rote Ampel überfährt und von der Polizei erwischt wird. Es mag allein ihrem unumwundenen Schuldeingeständnis und achtenswerten Rückritt zuzuschreiben sein, dass der entnervte Beobachter nicht aufstöhnt: „Sind wir eigentlich nur noch von Dekadenz umgeben?“

Doch hat die Sorge vor der grassierenden Dekadenz, insbesondere spätrömischer, unlängst einen wachsamen Mahner auf den Plan gerufen. In Person des liberalen Parteivorsitzenden Guido Westerwelle hat sich der diesmal wenig diskrete Charme der Bourgeoisie in markigen Sprüchen und Vergleichen Luft gemacht, um uns nach dem Karlsruher Urteil zur Neuberechnung geltender Hartz-IV-Gesetze vor spätrömischer Dekadenz und anstrengungslosem Wohlstand zu warnen.

Nicht, dass wir angesichts dramatischer Staatsverschuldung und Globalisierungsdruck keine Diskussion über die Zukunft unseres Sozialstaates gebraucht hätten oder darüber, wie sich Leistung für hart arbeitende Menschen wieder lohnen kann. Nur ist das Irritierende an dieser Debatte der Zynismus, mit dem sie losgetreten wurde, und wie sie die Nation inzwischen gespalten hat. Solche Diskurse können ein Land auch zerreißen, nicht zuletzt deswegen, weil der gesellschaftliche Zusammenhalt als unabdingbare Voraussetzung für sozialen Frieden mit davon abhängt, wie die Insider einer Gesellschaft mit ihren Outsidern umgehen.

Hinzu kommt: Bei seiner schonungslosen Kritik an den Hartz-IV-Regelungen und ihrer Gefahr des anstrengungslosen Wohlstands muss dem liberalen Mahner entgangen sein, dass dekadente Verhältnisse durchaus auch in den eigenen Reihen anzutreffen sind. Beispielsweise, wenn gut Betuchte in einer Zeit, in der sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnet, ihr Geld ins zugriffssichere Ausland schaffen und durch Steuerhinterziehung im XXL-Stil den Eigennutz über das Allgemeinwohl stellen. Und nicht zuletzt tragen die Liberalen wegen  ihrer kategorischen Ablehnung eines gesetzlichen Mindestlohns zumindest eine Mitverantwortung daran, dass ein stellenweise unverantwortliches Lohndumping selbst arbeitende Menschen in die Armutsfalle treibt und zu Bittstellern beim Amt macht.

Was wir angesichts solcher Zustände brauchen, sind nicht Sprüche, denen keine Taten folgen, sondern endlich konkrete Vorschläge, wie die Rundumerneuerung des Sozialstaats aussehen kann und vor allem, wie er vor dem Hintergrund leerer Kassen in Zukunft zu finanzieren ist. Im Hinblick auf diese Herkulesaufgabe wächst die Sorge vor einer schwarz-gelben Regierung, die sich zwar ausgiebig streitet, aber darüber hinaus bisher nichts bewegt hat.

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© Ute Bienkowski. Alle Rechte vorbehalten.
Zenit – Institut für Kreativität und Erfolgsmethodik

Weitere Beiträge zum Thema: Sorbas – eJournal für den Neubeginn.

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2 Antworten to “Guido Westerwelle und der wenig diskrete Charme der Bourgeoisie.”

  1. PaganRevolution Says:

    Vörschläge hin, Vorschläge her..Lösungen hier, Lösungen da.

    Man muss sie allerdings auch in Angriff nehmen! Dazu ist allerdings auch der Willen & Mut nötig. Den bringt die neoliberale Kaste jedoch nicht auf – wozu auch? Sie sind eher an einer Beibehaltung des status quo interessiert, vielleicht leicht modifiziert. Für diese Gruppierung ist nur die Selbstbereicherung und ihre sog. (wirtschaftliche) „Freiheitlichkeit“ wichtig.

    TH

  2. wo kann ich Says:

    „Nur ist das Irritierende an dieser Debatte der Zynismus, mit dem sie losgetreten wurde, und wie sie die Nation inzwischen gespalten hat“ – was meinst du damit?

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